Nun ist die Hälfte der Zeit rum. Also das 12. Türchen im Kalender darf heute geöffnet werden. Vermutlich ist der Dezember der einzige Monat im Jahr, an dem man jeden Tag weiß, der wievielte gerade ist. Für viele ist es der Countdown, der besagt: Bis zum 24.12. ist noch Zeit, da kann ich mir noch Gedanken machen, was ich wem schenken will. Melanie ist da vollkommen anders. Zum ersten Dezember -diese Regel hält sie seit mehr als zehn Jahren ein- zum ersten Dezember müssen alle Geschenke gekauft sein. Daher beginnt sie pünktlich am ersten November mit den Vorbereitungen, also: Listen machen, einkaufen. Was vor Ort erhältlich ist wird vor Ort gekauft. Besonders ausgefallene Sachen kauft sie im Internet. Am ersten Adventssonntag beginnt sie dann ihre Trostbriefe rumzuschicken. Manche schickt sie tatsächlich mit der Post, an andere ihr fernere Menschen schickt sie sie per E-Mail. Ich stehe auch in Melanies Verteiler und bekam zum ersten Advent folgendes Trostwort zu lesen: Es ist mehr als ein Wort, irgendwie fühlt es sich an, wie eine warme Quelle von Trost:
„Der Trost hat mich gefragt, ob ich bereit bin, durch den Schmerz hindurchzugehen, anstatt ihn zu umkreisen. Und ob ich meine Finger so lange in die Wunde lege, bis ich das Unversehrte darin fühlen kann. Er hat mich gefragt, ob ich mich halten lassen werde von Armen, die nichts je wieder in Ordnung bringen, und ob ich schweigen kann, bis irgendwann wie ein warmer Atem ein gutes Wort mich streift. Er hat mich gefragt, ob ich mich bücken werde zu einer kleinen blauen Blume am Wegesrand, ob ich Kirschen von den höchsten Ästen pflücke und ob ich ertragen kann, wenn mich am Abend ein Glück ganz ohne Grund befällt. Er hat mich gefragt, ob ich erahne, dass ich auf nichts ein Anrecht habe, auch nicht auf die Untröstlichkeit, weil sich in jedem Augenblick das Leben selbst an mich verschenkt, ohne zu zögern und ohne Maß. Wie jemand (eine, die), der noch in die Weite dieses Wortes wachsen muss, sagte ich Ja.“ (Gianna Wedde)
Ich habe auf Melanies E-Mail geantwortet: „Danke für die Worte“ -schrieb ich. „Im Moment kommt mir noch kein „Ja“ über die Lippen, aber es ist ja auch noch nicht Weihnachten. Ich hoffe: Es wird!
Dieser Beitrag wurde am 12.12.2022 bei Kirche im WDR gesendet
Foto: Adrien King