Bammel vor der Rente

Noch ein gutes halbes Jahr, dann ist Schluss für Joachim. Mit 58 Jahren hat er sich entschieden, in Rente zu gehen. Sein Arbeitgeber hat ihm ein Angebot gemacht, dass er nicht ablehnen kann. Auf einem anderen Blatt steht die Frage: „Was mache ich dann eigentlich?“ Schließlich ist Joachim kerngesund. Wenn er ganz ehrlich ist, hat er schon ein bisschen „Bammel“, wie er sagt. Angst ist ein zu starkes Wort für den Zustand, der sich einstellt, wenn Keller und Dachboden aufgeräumt, die Fassade gestrichen und der Garten bestellt ist. Dass das eine äußerst privilegierte Frage ist, mit der er sich auseinander setzen muss, weiß er schon. Denn vor ihm liegt ein Lebensabschnitt, den es vor 50 Jahren noch gar nicht gab. Ein bisschen ist es doch die Furcht vor dem Tod, die ihn beschleicht. Denn der Horizont, den er vor sich hat, ist nicht mehr endlos weit. Was ihn mehr beschäftigt als die Endlichkeit, ist die Frage: Was mache ich, wenn sich die Langeweile in meinem Leben ausbreitet. Sein Therapeut hat ihm geraten statt „Langeweile“ „Muße“ zu sagen: Postives Framing ist wichtig! Muße, so meint der Therapeut, ist eine Möglichkeit sich den Dingen länger zu widmen und sich Gedanken über die Lebensführung zu machen. Etwas, das im Berufsleben oft zu kurz kommt. Untersuchungen von Arbeitspsychologen haben gezeigt, dass Menschen, die in Beziehungen leben, besser aufgestellt sind, wenn es um den Übergang in den Ruhestand geht. Beziehungen in Partnerschaft, Freundschaft, zu Kindern vielleicht auch Enkeln.

Das Leben in Beziehungen wird als unglaublich sinnstiftend erlebt, wenn sich ein Gefühl einstellt, nicht mehr unmittelbar gebraucht zu werden. Und noch ein zweites haben die Wissenschaftler herausgefunden: Wenn man Endlichkeit nicht als Ende von allem denkt, sondern über Endlichkeit hinausdenken und fühlen kann, ist man klar im Vorteil. Ob er religiös sei, will der Therapeut von Joachim wissen? „Nicht sonderlich,“ meint er. „Als Kind halt Messdiener im Dorf, aber dieses Kapitel ist schon lange abgeschlossen.“ Egal!“, meint der Therapeut, „Sie sind mit der Tradition vertraut, das prägt. Nehmen sie den Psalm 31, den Jesus gebetet hat. Dort ist von der Geborgenheit in Gott die Rede. Meine Zeit steht in deinen Händen, heißt es da (V.16). Eine Bitte um Rettung und Schutz. Gott hat die Dinge unter Kontrolle. Das kann helfen bei Bammel vor eigenem Kontrollverlust. In Kombination mit der Muße wirken solche Sätze manchmal mehr als gedacht.“ Entweder klappt es oder ich wechsle den Therapeuten“, denkt Joachim. Sechs Monate Zeit es einmal auszuprobieren, hat er ja noch. Das mit der Muße und dem Psalm 31.

Dieser Beitrag wurde am 28.6.2023 bei Kirche im WDR2 gesendet.

Foto: Unsplash

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