Vertraut und unwirklich

Es ist schon ewig her. Dass sie es geschafft hat, ihre Eltern zu besuchen. Immer wieder nimmt sie es sich vor – doch es kommt nicht dazu. Der Weg ist einfach zu weit. Ihre Geschwister vor Ort machen ihr ein schlechtes Gewissen. Sie sei/ist die Einzige, der es offenbar vollkommen egal ist, was mit Mama und Papa wird. Als ihre Mutter plötzlich im Krankenhaus ist, kommt ihr Vater in die Tagespflege. Da tut sie es. Sie setzt sich in den Zug. Zu Hause fühlt sie sich wie ein kleines Mädchen, sieht ihren alten Schulweg, riecht die Kindergartentasche und hört die Stimme ihrer Mutter, die zum Essen ruft. „Vertraut und zugleich unwirklich“, denkt sie. Zum Glück haben die Geschwister keine Zeit für sie. Vorwürfe können ihr grad gestohlen bleiben.
Der Empfangsraum der Tagesklinik ist angenehm hell. In einer Sofaecke sitzen mehrere Senioren. Einige auf ihren Rollatoren. „Papa?“- fragt sie zögerlich, aber sein Blick bewegt sich nicht.
„Das kann nicht sein, das darf nicht wahr sein. Noch vor zwei Wochen haben wir ganz normal telefoniert!“ „Ich bin‘s, Claudia!“, sagt sie und hat den Eindruck, dass er sie erkennt. Sie gehen ein paar Schritte in die Cafeteria. Früher haben sie viel gesprochen. Besonders über Bäume, Gräser, Pflanzen und Blumen. Sein Beruf ist auch ihr Beruf geworden. Oft war er da mit seinem Rat. Und jetzt? Sie weiß nicht weiter. Und den Apfelkuchen bringt sie auch nicht runter. Als sie aufsteht, fällt ihr Blick auf ein Kreuz an der Wand, darunter steht: „Gott, deine Güte ist besser als Leben.“ (Psalm 63,4) „Lass uns gehen“, sagt er, „nach Hause“. Er steht neben ihr und hat seine Hand in ihre gelegt. „Ich kann nicht, Papa, ich kann nicht…!“
Er versteht das nicht und sie weiß es. Auf dem Weg zu ihrer Mutter ins Krankenhaus denkt sie: „Ich bin eine erwachsene Frau. Ich werde mir von niemandem einreden lassen, ich hätte nichts gegeben und nur genommen. Klar, meine Eltern haben mir das Leben geschenkt, dafür bin ich dankbar. Und für all das, was sie für mich getan haben! Aber ich bin auch für sie da gewesen. Habe sie unterstützt. Der Satz: Gottes Güte reicht soweit der Himmel ist – gilt auch mir. Auch wenn ich diesen Satz immer wieder vor mich hin sagen muss. Irgendwann werde ich ihn glauben. Gottes Güte reicht soweit der Himmel ist.

Dieser Beitrag wurde am 1.2.2020 bei Kirche in WDR2 gesendet und kann hier noch einmal nachgehört werden.

Foto: https://unsplash.com/photos/cKT0oJL9vMI

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