Es ist immer noch sehr warm. Am Morgen. Dabei ist es erst viertel vor acht. Auf der Straße ist niemand zu sehen.Von der Bushaltestelle drüben kommt Musik. Das kleine Kofferradio liegt im Transportkorb eines blauen Rollators, auf den sich ein kleiner, älterer Herr stützt. Die Antenne des Radios berührt bei jedem Schritt seinen, kleinen Kugelbauch. Sein Strohhut ist so groß – er würde glatt noch einem zweiten Rollator Schatten spenden können. Jetzt hat er den Lautstärkeknopf bis zum Anschlag aufgedreht: „Infos, die ich brauche, Musik, die ich mag“ tönt es aus dem Lautsprecher.
Er lässt sich etwas unbeholfen auf die hölzerne Bank an der Haltestelle fallen. Dann beginnt sein Fuß im Rhythmus der Musik zu wippen.
Zugegeben: Dass er auf „Silbermond“ steht, das wundert mich. Aber vielleicht kennt er die Band auch gar nicht, vielleicht packt ihn einfach der Refrain: „Wann reißt der Himmel auf? Auch für mich? Sag mir wann?“
Als er den Hut abnimmt, erkenne ich ihn: Vor Jahren habe ich seine Frau beerdigt. Er hat sie im Arbeitslager in Sibirien kennengelernt. Sie haben dort malocht – oft bis zur vollkommenen Erschöpfung. Als sie nach dem Ende der Sowjetunion in Deutschland ankommen, sind sie froh. Auch wenn es eine Heimat ist, die sie nicht kennen.
„Wissen Sie, Herr Pfarrer“, hat sie mir einmal bei einem Geburtstagsbesuch gesagt: „Der Herr schaut vom Himmel und sieht auf alle Menschenkinder“. Ich habe damals nicht verstanden, was sie damit eigentlich gemeint hat.
Später als es darum geht, welches Bibelwort sich für ihre Trauerfeier eignet, schaue ich noch mal in der Bibel nach:
„Gott lenkt ihnen allen das Herz, er gibt acht auf alle ihre Werke“- steht da. Und weiter: „Gott errettet uns vom Tod und erhält unser Leben in Hungersnot“ (Psalm 33, 13.19). Sie hat offenbar sehr genau gewusst, wovon in dem 33. Psalm die Rede ist . Gott hat sie in Zeiten des Hungers bewahrt. Gott errettet uns vom Tod. In diesem Glauben ist sie gestorben.
Ihr Mann ist nicht in der Kirche. Gott ist ihm irgendwo in der sibirischen Steppe verloren gegangen. Die Hoffnung auf ein kleines bisschen Glück und einen offenen Himmel, den hat er offenbar aber noch. Oder ist es einfach nur Zufall? Wenn er demnächst wieder an der Bushaltestelle sitzt, werde ich ihn fragen.
Der Beitrag war am 14.9.2019 bei „Kirche in WDR2“ zu hören und kann hier noch einmal nachgehört werden.