Prof. Dr. Gotthard Fermor auf der Landessynode der ekir 2011

Der heutige Vortrag von dem Direktor des Pädagogisch-Theologischen Institutes Gotthard Fermor auf der Landessynode der rheinischen Kirche ist nach meinem Empfinden wegweisender als das, was ich gestern kommentieren wollte. Unter dem Titel „Kirchliche Berufe-der eine Dienst und die vielen Ämter“ gibt es nicht weniger als eine handfeste Diagnose kirchlichen Handelns und schlaglichtartige Therapie Empfehlungen. Hier einige Auszüge:
Den gesamten Vortrag findet ihr auf der ekir.de/landessynode Seite

1. Kirchlichen und gesellschaftlichen Wandel wahrnehmen

Kirchliche Berufe, die es nur multiprofessionell geben kann, antworten auf den Ruf Christi zum Dienst, sowie auf die „Rufe“, die sich aus den Analysen gesellschaftlicher wie kirchlicher Praxis ergeben. Letztere unterliegen als geschichtliche Größen ständigen Veränderungen. Nur in der Wahrnehmung, Deutung und Gestaltung dieser Veränderungen können kirchliche Berufe die Kommunikation des Evangeliums heute verantwortlich gestalten. Die Ausdifferenzierung kirchlicher Berufe in modernen Gesellschaften entspricht der Ausdifferenzierung dieser sich verändernden Handlungsanforderungen. Instrumente der Wahrnehmung und Deutung sind seit den 70er Jahren die umfangreichen Mitgliedschaftsstudien der ev. und kath. Kirche. Sie geben Auskunft über die enorme Pluralität religiöser Vorstellungen innerhalb der eigenen Mitgliedschaftsmilieus – vgl. aktuell die 4. EKD-Mitgliedschaftsstudie[6] sowie die Sinus-Studie für die kath. Kirche. Ebenso geben die breit angelegten soziologischen Studien zur religiösen Lage der Gesellschaft, die nicht in kirchlichen Gestaltungsinteresse erfolgen, Auskünfte über die gestiegene Diversität religiöser Einstellungen und Praktiken in unserer Gesellschaft, die sich jenseits aller kirchlichen Praxis ereignen (vgl. den Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung oder die Studie „Spiritualität in Deutschland“ der Identity-Foundation).

Diese für Kirche und Gesellschaft gleichermaßen relevanten Veränderungen lassen sich grob in vier Aspekte zusammenfassen:

Wir leben in einer religiös-säkularen Gesellschaft: Säkular, weil sich spirituelle Bedürfnisse und religiöse Praxis zu einem großen Teil heute jenseits kirchlicher Räume verwirklichen; religiös, weil diese nicht-kirchliche und insofern „säkulare“ Praxis erwiesenermaßen religiöse Interessen verfolgt und sich alles andere als von diesen verabschiedet hat.
Wir leben in einer Optionsgesellschaft: Religiöse Praxis gestaltet sich heute innerhalb und außerhalb der Kirche als Wahlreligiosität, die von einem nie dagewesenen Maß an Individualität und Pluralität bestimmt ist.
Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft: Die angesprochene religiöse Pluralität speist sich nicht nur aus den Wahlmöglichkeiten und – notwendigkeiten einer Erlebnisgesellschaft, sondern auch durch das Neben- (und im gelingenden Falle) Miteinander einer multikulturellen Gesellschaft: religiöse Praxen verschiedener geprägter Religionsgemeinschaften wollen in einem gesellschaftlichen (globalisierten) Kontext – interkulturell – in Beziehung gebracht werden.
Wir leben in einer Risikogesellschaft: Die Risiken der kapitalistischen und globalen Beschleunigungen werden strukturell immer mehr den Individuen und ihren lebensweltlichen Kompensationsstrategien überlassen. Dies betrifft z.B. in der Bildungs – oder Kulturperspektive auch den Zugang zur religiösen Praxis. Wer kann sich welche Spiritualitätspraxis wie leisten?
2. Folgerungen für den vielgestaltigen kirchlichen Dienst heute

Verbinden wir diese Wahrnehmungen mit den fünf Grunddimensionen der einen diakonia, dann müssen wir, so meine ich, fragen:

a) Wie kann und muss man heute angesichts der religiös-säkularen und multikulturellen Gesellschaft martyria praktizieren?

Dazu jeweils nur einige Streiflichter:

Zeugnisdienst geschieht z.B. auch durch die aktive dialogische Teilnahme am kulturellen Leben und Diskurs unserer Zeit, die so voller religiöser Symbole und Thematiken ist, dass sie nach Deutung und lebensdienlicher weiterführender Gestaltung geradezu schreit. Der Dialog mit Medien- und Kunstschaffenden von der Caféhausausstellung im Quartier bis zur Talkshow ist solch ein Dienst, der selbst alle möglichen publizistischen Kanäle nutzen sollte. Kultur- und Medienarbeit, geregelt und nicht institutionell geregelt, sind Dienste in der Dimension der martyria und alles andere als verzichtbarer Luxus.

Dieser Zeugnisdienst geschieht natürlich auch im kirchlichen Bildungsengagement in Gemeinden, Kindertagesstätten, in Schulen, in den Schnittstellenangeboten zwischen Schule und Gemeinde, in der Erwachsenenbildung, in der Akademiearbeit, in den Hochschulen und den Hochschulgemeinden usf.

Er geschieht in den theologisch anspruchsvollen Gesprächssituationen in der Pflege, in der Sozialen Arbeit (ja, die gibt es!) und im Vorstand von Wirtschaftsunternehmen, wenn es beispielsweise um ethische Fragestellungen von Unternehmensausrichtungen geht.

Und natürlich in all dem, was wir klassischer Weise mit Verkündigung assoziieren. Gerade der Predigtdienst hat seine Herausforderung heute darin, im Kontext all dieser martyria-Dienste eine Sprache sprechen zu können, die ihn nicht als Fremdkörper aus diesem Dienstspektrum isoliert.

b) Welche Formen der koinonia sind in der Optionsgesellschaft plausibel und einladend?

Mit dem Modell der Kirchlichen Orte, das sowohl dem vereinsmäßigen Format der koinonia in der Parochie ihr Recht lässt, als auch ermöglicht, schwerpunkt- und zielgruppenbezogen Gemeinschaften an dafür erkennbaren regionalen Orten zu versammeln (durchaus auch nur für bestimmte Projekte und auf Zeit), ist eine zukunftsweisende Idee geboren worden, die allerdings noch ihrer Verwirklichung harrt. Aber auch dieses Modell denkt u.U. noch zu stark vom Kirchturm her, vor allem dann, wenn es nicht in der Lage ist, die nicht institutionalisierten und geregelten Gemeinschaftsformen christlichen Lebens mit in den Blick zu nehmen. In den blühenden und wachsenden spirituellen Landschaften bilden sich Szenen und Bewegungen, die ihre christliche Basis nicht verleugnen, aber sich aus vielerlei Gründen immer mehr von der kirchlich organisierten Gestalt des Christentums entfernen. Auch dies wird endlich auch gründlicher erforscht und muss sehr ernst genommen werden. Es sind vor allem auch die Sprachgestalt dogmatischer Themen und die damit einhergehende Erfahrungsöde, die immer mehr Menschen nicht-kirchlich ihre christliche Spiritualität praktizieren lassen, oft in weiter interreligiöser Ausdehnung – so die aktuelle interdisziplinäre Studie des Bayreuther Forschungsteams zur Religiosität der evangelischen Kirchenmitglieder unter dem sprechenden Titel „Spirituelle Wanderer“. Ob angesichts dieses Blühens und Sprießens die kirchliche Metapher vom „Wachsen gegen den Trend“ glücklich ist, muss zumindest einmal befragt werden dürfen.

Von zu einseitig kirchturmsbezogenen Rückeroberungsstrategien und -phantasien sollte man im Zeitalter mündiger Christen/innen möglicherweise eher absehen und sich fragen, ob die Zukunft des kirchlichen Dienstes (in allen Dimensionen!) nicht in der Kooperation liegt: „Kirche in Kooperation“ wäre aus meiner Sicht eine zukunftsweisende Aufführungspraxis der Komposition „Missionarisch Volkskirche sein“.

d) Welche Rolle spielt die leiturgia in der Verzweckungsgesellschaft?

Sich unterbrechen zu lassen, Zeit und Platz haben, um auf den cantus firmus zu hören, die Flamme bewahren – das sind Herausforderungen, der sich die Praxis der zweckfreien leiturgia heute – und wie schon immer – widmen muss. In einer sich zunehmend totalisierenden Verzweckungsgesellschaft, ist allein die Praxis einer zweckfreien Theologie und Liturgie ein Politikum. „Was nützt der Gottesdienst?“ ist die falsche Frage an diesen Dienst. Wesentlich ist gerade heute, diese Dimensionen des einen Dienstes auch in der Praxis mit seinen anderen Dimensionen zu vernetzen, also dort Gottesdienst anzubieten, wo kirchlicher Dienst sich in der Breite gesellschaftlicher Felder und Herausforderungen bewegt. Deshalb ist die liturgische Praxis in den funktionalen Diensten so wesentlich, nicht erst, wenn die Not am größten ist und Menschen dankbar die Dienste der Notfallseelsorge und –liturgie in Anspruch nehmen, wie es zuletzt in Duisburg wieder sichtbar war. Spiritualität im Alltag und die dafür zu entwickelnden Rituale sind in der Breite ehren- und hauptamtlichen Dienstes kreativ in den Blick zu nehmen: in der Schule, Hochschulen, im Krankenhaus und Hospiz, im Unternehmen, auf Reisen usf.

3. Polyphonie meint Differenzierung

Auch dies muss natürlich gesagt werden: Ein Dienst heißt nicht einheitlicher Dienst. Nicht jedem ist die Gabe der Leitung oder der Heilung oder der Erziehung gegeben, das ist klar. Und: ein Dienst heißt auch nicht einheitliche Bezahlung. Doch von woher sollen diese Differenzierungen innerhalb der kirchlichen Berufe begründet werden, wenn sie – wie hier geschehen – theologisch doch gerade demokratisiert bzw. gleichermaßen auf ihren cantus firmus bezogen wurden?

Die Unterschiede in Ausstattung und Bezahlung, die keineswegs nivelliert werden dürfen, sollten allerdings m.E. rein funktional begründet werden:

So gibt es beispielsweise graduell große Unterschiede im Erwerb und in der Ausgestaltung Theologischer Kompetenz, die für den Dienst der martyria so wichtig ist: Dies bildet sich ab auf der Ausbildungsebene und dem Grad der öffentlichen Verantwortung dieses Dienstes, der mit der Ordination markiert wird. Es gibt Verwirklichungskontexte der martyria, für die ein hohes Maß an Deutungshandwerk erlernt werden sollte, erst recht, wenn dies öffentlich und verlässlich geschehen soll. Aber es bleibt die gleiche Dimension der martyria, wenn sich öffentlich bekannte Theologen/innen deutend in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen und wenn ehrenamtliche Mitarbeiter im Hospiz an den Grenzfragen von Tod und Leben nach Deutungsmöglichkeiten gefragt werden. Und auch dem Küster und der Küsterin wird immer wieder theologische Deutungskompetenz abverlangt, z.B. dann wenn sie den Sinn mancher liturgischer Raumgestaltung erklären sollen.

Und manche Unterschiede sollten in funktionaler Perspektive vielleicht auch vermehrt wieder stark gemacht werden, z.B. der dass das Pfarramt vor allem ein theologischer Beruf ist. In manchen Ländern wäre es unvorstellbar, wie viel Verwaltungsaufgaben hier mit dem Pfarramt verbunden sind. Dafür gibt es dort eigene Berufe. Und auch die pädagogischen Aufgaben können dafür eigens gut ausgebildete Mitarbeiter/innen noch viel mehr wahrnehmen. Vor allen funktionalen Überforderungen schützen nur Teamentwicklungen. Das ist das Gebot der Stunde!

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