Viel Kraft

Es ist ein kalter, windiger Wintermorgen. Ich stehe in einer großen Gruppe mit vielen Menschen auf dem Friedhof. Die Bestatterin hat eine Lautsprecher-Anlage aufgestellt. Auch in 50 Metern Entfernung soll man noch die Worte des Pfarrers hören. Leider verstärkt das Funkmikro an seinem Talar das Pfeifen des Windes, was zu unangenehmen Rückkopplungen führt. Die Bestatterin schaltet die Anlage aus. Die Hinterbliebenen werfen Buchsbaumsträuße in das Grab und treten einige Meter beiseite. Die Trauergemeinde setzt sich langsam in Bewegung. Manche nehmen Blütenblätter und wollen sie in das offene Grab werfen, aber der Wind weht sie weit über den Friedhof. Viele kondolieren den Hinterbliebenen mit dem Satz „Ich wünsche euch viel Kraft“. Vielleicht ist es die Häufung des Satzes, die mich an diesem Tag aufhorchen lässt. Für mich klingt es an diesem Morgen nach einem „Kopf hoch, es wird schon“, oder auch „Nur nicht unterkriegen lassen, das Leben geht weiter“. Ganz gewiss nicht das, was die Familie des Verstorbenen gebrauchen kann. Viel Kraft gewünscht zu bekommen, klingt beinahe zynisch. So als müsse man die Last, unter der man gerade zu zerbrechen droht, wirklich ganz alleine tragen. Dabei sind so viele Menschen hier, denke ich. Und jede und jeder von uns muss sich eigentlich die Frage stellen, wie kann ich jetzt für Entlastung sorgen. Wie kann ich mithelfen zu tragen, was eigentlich nicht allein geschultert werden kann? Nun bin ich an der Reihe, zu kondolieren. Ich bin total verunsichert, was ich nun sagen soll, oder ob ich besser wortlos bleibe. Schließlich kommt mir ein: „Ich möchte helfen, weiß aber gerade nicht wie“ über die Lippen. Kaum ausgesprochen, bereue ich schon, es gesagt zu haben. Immerhin ehrlich, denke ich. Und gehe über die auf dem Weg verstreuten Blütenblätter Richtung Ausgang. Beim Leichenschmaus mit Kaffee, Gulaschsuppe und Streuselkuchen treffe ich Bekannte, die ich Jahre lang nicht gesehen habe. „Wir müssen was machen“, sage ich, „nicht nur wünschen. Zu meinem Erstaunen erklären sich alle bereit, über die nächsten Wochen hinweg Kontakt mit den Trauernden aufzunehmen. Und damit wir das nicht alle gleichzeitig machen, erstelle ich eine doodle-Umfrage. Sich zu melden und zu hören, wie es gerade geht, ist vielleicht genau die Kraft, die von uns aufgebracht und nicht nur gewünscht werden muss.“

Dieser Beitrag wurde am 12.1.2024 bei Kirche im WDR gesendet

Foto: Unsplash

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen