Einkaufswagen auf Parkplatz

Passen Sie gut auf sich auf

An der Gemüsetheke im Supermarkt greife ich nach den Möhren im unteren Fach. Dazu muss ich mich bücken. In diesem Moment rammt mir eine Rentnerin ihren Einkaufswagen in meinen Allerwertesten. „Können Sie nicht aufpassen!“ fährt sie mich nun auch noch an. Eigentlich möchte ich irgendetwas zurück raunen im Sinne von „Selber aufpassen!“, oder: „Früher hieß das ‚Entschuldigung‘!“ Ich sage aber gar nichts, packe die Möhren in meinen Einkaufskorb und gehe weiter. Die denkbar kurze Zündschnur der Rentnerin ist vielleicht Tagesform abhängig, oder sie geht tendenziell missmutig durchs Leben. Ich entdecke aber auch an mir, dass meine eigene Zündschnur, die ohnehin schon bisher nicht die längste war, noch kürzer geworden ist: Beim Ein- und Aussteigen im Zug, nur noch Ignoranten. Im Straßenverkehr nur noch Idioten, besonders die auf den Streetscootern. In der Service Hotline wird das Ohr von der Wartemusik heiß und auf der Arbeit prüft der Kollege lieber einmal zu viel seine Zuständigkeit. Die Wissenschaft versucht eine Antwort auf die Frage, warum alle so gestresst sind: „Je komplexer die Umwelt, desto weniger frei fühlen wir uns und desto belasteter sind wir. Das verstärkt die Unsicherheit und die Unzufriedenheit“, sagt der Chefarzt einer Klinik. Und ein Soziologe vergleicht den Zustand unserer Gesellschaft gar mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Selbst wenn man das für übertrieben hält, feststeht:

Das Fieberthermometer zeigt deutlich erhöhte Temperatur. Ich frage mich, welche kalten Umschläge können helfen?

Die Wissenschaftler raten, man solle anerkennen, dass man strukturelle Probleme nicht individuell lösen kann. Allein diese Einsicht würde schon dazu führen, ein Stück Freiheit zurück zu erobern und neue Kräfte freizusetzen. Und um die individuelle Zündschnur erst gar nicht in Brand geraten zu lassen, gibt es viele Ratschläge. Ein Freund von mir legt sich von Ostern bis Oktober vor dem Frühstück in seinen ungeheizten Pool. Eine Freundin geht joggen. Meine Methode für ein cooling down ist das „Herzensgebet“. Es ist Jahrhunderte alt und ist eine Möglichkeit, sich auf Gott zu konzentrieren. Eine der ältesten und weit verbreitetsten Gebete ist: “Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.“ Durch das wiederholte Rezitieren kommt man zu sich selbst und zu Gott. Nebenbei führt es dazu, innerlich und äußerlich ruhiger zu werden, Grübelgedanken zu durchbrechen und Stress abzubauen. Aber soweit bin ich noch nicht, sonst hätte ich an der Gemüsetheke erwidern können: „Passen sie gut auf sich auf.“

Dieser Beitrag wurde am 6.10.2023 bei Kirche im WDR gesendet.

Bild: Stable Diffusion

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