Herr A.

Nur ein leises Klopfen ist an der Bürotür zu hören. Auf „Herein!“ erfolgt keine Reaktion. Ich öffne die Tür und bitte Herrn A. (23) einzutreten. Zögerlich nimmt er Platz. Seinen Vater möchte er anrufen, seit 4 Jahren hat er ihn nicht gesehen und seit einem Jahr nicht mehr gesprochen, weil telefonieren in Haft nur eingeschränkt möglich ist, nach Afghanistan erst recht.  Um seinen Vater zu kontaktieren muss Herr A. allerdings erst seine Mutter anrufen, die in Kabul wohnt, von ihr erhält er die Telefonnummer seines älteren Bruders, der schon lange im Ausland lebt. Nur dieser Bruder weiß, wo der Vater wohnt, die Eltern haben schon lange keinen Kontakt mehr. Als der Bruder erfährt, dass Herr A. aus dem Gefängnis anruft, muss dieser einen längeren „Vortrag“ über sich ergehen lassen. Es geht offenbar um die Familienehre und auch um Geld, jedenfalls muss Herr A. sich nach dem Telefonat erst einmal zehn Minuten sammeln: Er sei nun nicht mehr sein Bruder, wurde ihm eröffnet. Die beiden sahen sich zuletzt als Herr A. 14 Jahre alt war. Schließlich kommt das Telefonat mit dem Vater tatsächlich zustande, es scheint harmonisch und liebevoll zu verlaufen. Plötzlich verändert sich etwas: Herr A. redet aufgeregt, wird laut, beschwörend und fängt bitterlich an zu weinen. Ich reiche ihm Taschentücher. Als das Gespräch beendet ist, ringt er immer noch um Fassung. Seine Cousine (12) ist bei einem Bombenanschlag in der Region Kundus auf dem Weg zur Schule getötet worden. Zunächst wollte der Vater das nicht erzählen, sagte, dass alles in Ordnung sei und dass kein Grund zur Sorge bestehe. Doch der kleine Bruder, der das Gespräch im Hintergrund mithörte, hielt es wohl nicht mehr aus, beschimpfte den Vater als Lügner und erzählte schließlich von dem Anschlag. Wir reden noch eine Stunde später über die Angst, den Terror und abgebrochenen Beziehungen. Über das begonnene Medizinstudium in Afghanistan und die Hoffnung es in Deutschland abschließen zu können, über seine Ehe und die beiden kleinen Kinder und wie es nach der Haft weiter gehen soll. Wir reden auch über die Rolle von Christentum und Islam als Religionen des Friedens, die sich dem Hass entgegen zu stellen haben. Am Sonntag nach dem Gespräch besucht Herr A. mit seiner Familie den Gottesdienst. Wir zünden eine Kerze für die verstorbene Cousine an. Afghanistan ist weit weg und doch sehr nah.

Foto: https://unsplash.com/photos/o7PxpvonuRQ

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