Der Journalist Hannes Leitlein hat mit einem Artikel in C&W ein beachtliches Echo hervorgerufen, das unter #digitalekirche vor allem auf Twitter immer mal wieder anzutreffen ist, besonders wenn Interessierte und Versierte auf Tagungen oder Barcamps zusammen kommen.
Neueinsteiger ins Thema sind oft irritiert, da die Bandbreite dessen, was dort diskutiert wird sehr groß ist. Manchmal geht es dort sehr technik-lastig zu: Jemand beschreibt, wie er einen eigenen Chatserver betreibt, um vom verhassten Whatsapp loszukommen und verweist gleichzeitig auf die von einer Landeskirche betriebene Kalender- und Terminanwendung, die sich hinter einem Portal verbirgt zu dem der Zugang nur mit einer bestimmten Mailadresse zugänglich ist. Es werden Empfehlungen zu 360° Kameras ausgetauscht, Anleitungen zum Bau von 3D-Druckern erstellt und Erfahrungen mit Live-Streaming Diensten geteilt. Auch sehr beliebt sind Tipps zum Umgang mit DSGVO, dem kirchlichen Datenschutzgesetz oder dem IT-Sicherheitsgesetz, denn auch die Bedingungen von „Online-Seelsorge“ wollen bedacht werden. Hin und wieder geht es auch im „Verkündigung“ in den sozialen Medien, überraschender Weise unter der Fragestellung, dass Kirche den Menschen auch dort das Evangelium „schuldig“ sei und die „missionarische Gelegenheit“ nicht ungenutzt bleiben dürfe. Mit Hilfe von Targeting erscheint es sogar sehr verlockend den Menschen, die wenig kirchliche Bindung aufweisen ein passgenaues „Angebot“ zu machen.
Täuscht es, oder geht es bei #digitalekirche vorrangig um kirchliche PR/„Öffentlichkeitsarbeit“? Das allerdings wäre ein zu schmaler Fokus sowohl auf „Kirche“ wie auf „Digitalität“.
Vielleicht ist es hilfreich mit Felix Stalder (Kultur der Digitalität) einen Blick auf die Begriffe „Kultur“ und „Digitalität“ zu werfen. Stalders soziologische Perspektive auf „Kultur“ als „handlungsleitend“ und „gesellschaftsformend“ mag in diesem Zusammenhang auch die Sozialform von „Kirche“ beschreiben können. Er schreibt:
„Als Kultur werden … all jene Prozesse bezeichnet, in denen soziale Bedeutung, also die normative Dimension der Existenz, durch singuläre und kollektive Handlungen explizit oder implizit verhandelt und realisiert wird. Bedeutung manifestiert sich aber nicht nur in Zeichen und Symbolen, sondern die sie hervorbringenden und von ihr inspirierten Praktiken verdichten sich in Artefakten, Institutionen und Lebenswelten. … Durch Materialisierung und Wiederholung wird Bedeutung, als Anspruch wie als Realität, sichtbar, wirksam und verhandelbar. Menschen können sich unterstützend, ablehnend oder indifferent dazu verhalten. Erst dann, im Austausch in größeren oder kleineren Formationen, entsteht soziale -also von mehreren Personen geteilte- Bedeutung. Produktion und Rezeption sind dabei nicht linear, sondern in Schlaufen geordnet und wechselseitig aufeinander bezogen, soweit diese beiden Momente überhaupt sinnvoll unterschieden werden können. In diesen Prozessen legen die Beteiligten mehr oder minder verbindlich fest, wie sie zu sich selbst, zueinander und zur Welt stehen und an welchem Referenzrahmen sich ihr Handeln orientieren soll. Dementsprechend ist Kultur nicht etwas Statisches, etwas, das eine Person oder eine Gruppe besitzt, sondern ein Feld der Auseinandersetzungen, umstritten und durch die Handlungen vieler dauernd Veränderungen unterworfen, hier mal schneller, dort mal langsamer. Sie ist gekennzeichnet durch ein Neben-, Mit- und Gegeneinander von Prozessen der Auflösung und der Konstitution. Das Feld der Kultur ist von konkurrierenden Machtansprüchen und Machtdispositiven durchzogen. Dies führt zu Konflikten darüber, welche Referenzrahmen für welche Felder und für welche sozialen Gruppen zu gelten haben. … Kultur … speist sich aus vielen Quellen, wird vorangetrieben von unterschiedlichsten Begehren, Wünschen und Zwängen, und sie mobilisiert die verschiedensten Ressourcen in der Konstituierung von Bedeutung. Die Betonung der Materialität der Kultur kommt auch im Begriff der Digitalität zum Ausdruck. … ‚Digitalität’ bezeichnet damit jenes Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie in der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird. Damit soll weniger die Dominanz einer bestimmten Klasse technologischer Artefakte, etwa Computer, ins Zentrum gerückt werden, und noch viel weniger soll das ‚Digitale’ vom ‚Analogen’, das ‚Immaterielle’ vom ‚Materiellen’ abgegrenzt werden. Auch unter den Bedingungen der Digitalität verschwindet das Analoge nicht, sondern wird neu be- und teilweise sogar aufgewertet. Und das Immaterielle ist nie ohne Materialität, im Gegenteil, die flüchtigen Impulse digitaler Kommunikation beruhen auf globalen, durch und durch materiellen Infrastrukturen, die von den Minen tief unter der Erdoberfläche, in denen Metalle der Seltene Erden abgebaut werden, bis ins Weltall, wo Satelliten die Erde umkreisen, reichen. Diese sind in den Alltagserfahrungen jedoch kaum sichtbar und werden daher oft ignoriert, ohne dass sie deswegen verschwinden oder an Bedeutung verlieren. ‚Digitalität’ verweist also auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure. Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure.“ (S.13ff)
Muss „Digitalisierung“ in Kirchengemeinden ein Thema sein?
Auch wenn es angesichts der Ausführungen Stalders schwer fällt, kann diese Frage nur mit einem Ja beantwortet werden, denn die konfessionelle Vielgestaltigkeit von Kirche ist gerade das Ergebnis von Konstitutions- und Auflösungsprozessen, die in kirchlicher Alltagsbeschäftigung nur zu gerne ausgeblendet werden.
Eine #digitalekirche hätte nun die Aufgabe jenseits eigener Verfasstheit und Lieblingsthematik („Rechtfertigung“, „Sakramentalität“) die Möglichkeiten im Feld der theologischen und kultischen Auseinandersetzungen auszuloten, den Referenzrahmen zu beschreiben und ganz im Sinne von Gal. 2 par. Acta 15 den Weg der Transformation zu gehen. Ob es dazu einen eigenen hashtag braucht, ist ungewiß, aber #postdigitalekirche wäre hübsch.
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